Juan Gris

Ursprünglich mit didaktischen Anmerkungen zur Struktur und mit inhaltlichen Erläuterungen versehen, ist der folgende Text als mögliches Beispiel für die Aufgabenart Analyse und Interpretation" im Kunstunterricht der Sekundarstufe II eingesetzt worden. Hier wird lediglich der Text selbst wiedergegeben. 

Die kubistische Bildsprache – Analyse und Interpretation des „Stillleben mit Landschaft (Place Ravignan)" von Juan Gris

Der spanische Maler Juan Gris (1887-l927) hat das Bild mit dem Titel „Stillleben mit Landschaft (Place Ravignan)“ 1915 in Öl auf Leinwand gemalt. Das Hochformat misst 116,5 x 89 cm. Heute befindet sich das Werk im Museum of Art in Philadelphia.

Zwar deutet der Titel des Bildes an, dass es sich um ein Stillleben handelt, doch fällt zunächst die geometrische Gliederung der Fläche auf. An einigen Stellen, vor allem oben im Bild, kann man deutlich Gegenständliches erkennen: In dem blau und weiß gehaltenen Feld sind zwei Baumstämme, Blattwerk und dahinter eine Hausfassade mit mehr oder weniger geschlossenen Fensterläden zu sehen. Von hier aus, durch die Komposition geführt, erfasst dann der Betrachter auch andere Partien des Bildes, die deutlich Gegenstandshinweise enthalten. Im Vordergrund ist ein Tisch zu erkennen, auf dem verschiedene Gegenstände abgelegt sind. Links liegt ein geschlossenes Buch, rechts daneben eine Zeitung, auf der ein Weinglas und dahinter eine Flasche stehen. Die Mitte dieses kleinen Arrangements, die zugleich die Mitte des Bildes ist, zeigt eine Fruchtschale mit Fuß. Hinter dem Buch, etwa in der gleichen Höhe wie die Schale, steht eine Rotweinflasche, zu erkennen an ihrem Etikett mit der Aufschrift „Medoc“, einer bekannten französischen Rotweinsorte. Rechts, aber vor allem links von der schräg von oben gesehenen Tischfläche mit den genannten Gegenständen, ist ein Ornament zu erkennen, das wohl als abschließende Wand zu deuten ist, die dann im oberen Bereich des Bildes von einem Fenster durchbrochen wird, das den Blick auf die Straße, auf die Bäume und die gegenüberliegende Hausfassade freigibt. Dieser Bildabschnitt ist eingerahmt von einem nach innen geöffneten Fensterflügel, durch den man einen karierten Vorhang erkennt und auf der anderen Seite durch ein Geländer oder Zaun und eine vom Bildrand angeschnittene Straßenlaterne. Das Stillleben enthält also neben einer für diese Bildgattung charakteristischen Anordnung von Gegenständen auch das Fenstermotiv, das häufig in Interieurdarstellungen vorkommt.

Zunächst erscheint das Bild, hat man die dargestellten Gegenstände noch nicht richtig erkannt und einander räumlich zugeordnet, recht unübersichtlich, ja fast chaotisch. Erst allmählich erkennt man Ordnungen, die zeigen, dass der Maler hier eine durch und durch geplante Komposition angelegt hat. Die konstruierte, geometrisch anmutende Struktur besteht aus vieleckigen, oft auch nur dreieckigen Formen, die in ihrem Farbcharakter voneinander abgesetzt, entweder als begrenzter Bildgrund für die Gegenstände oder Gegenstandsfragmente dienen, oder scheinbare Transparenzen aufweisen, um dahinter liegende Dinge zu zeigen. Die erste Kompositionsskizze veranschaulicht, wie diese Flächen das Bild gliedern und deutlich unterhalb der Mitte ein aktives, unruhiges Zentrum bilden, das die Darstellung des eigentlichen Stilllebens enthält. Durch seine verhältnismäßig feine, vielgestaltige Struktur wird die Aufmerksamkeit des Betrachters immer wieder angezogen, so dass er sich aufgefordert fühlt, diese besondere Bildsprache zu deuten und zu verstehen.

Doch nicht nur diese Ordnung der Flächen weist auf das Zentrum der Komposition hin, auch scheinbare Bewegungsrichtungen, darstellbar durch Pfeile oder spitze Winkelformen, verdeutlichen die Grobstruktur des Bildes. Dies wird in der zweiten Kompositionsskizze gezeigt. Hier nun wird noch deutlicher, mit welchen Mitteln der Künstler die dynamische Wirkung erreicht, die vermutlich auch dazu beigetragen hat, das Bild anfangs als unruhig zu empfinden. Diese Bewegungen lösen sich in ihren gegensätzlichen Richtungen einander ab, durchdringen oder überlagern sich gegenseitig, laufen zueinander parallel und bilden korrespondierende Formen, die über die gesamte Fläche verteilt Beziehungen herstellen. Somit bilden sie letztlich, trotz ihrer Dynamik, eine harmonische, auf Ausgleich bedachte Komposition.

Betrachtet man die Bildränder, so fällt auf, dass Gris hier immer wieder Gegenstände, wie z.B. den Fensterrahmen oben links, angeschnitten darstellt und vor allem schräg, also nicht parallel zum Bildrand, ausrichtet. So scheinen auch einige Bewegungsrichtungen von außerhalb des Bildgevierts in das Innere der Komposition zu weisen, indem sie scheinbar keine Rücksicht auf die Bildgrenzen nehmen. Doch gerade diese dynamische Gegenläufigkeit, die gleichsam programmatisch durch die Lage der beiden Baumstämme eingeleitet wird, steht antithetisch zur statischen Strenge des rechteckigen Hochformats.

Trotz der an einigen Stellen transparenten Wirkung der die Grobstruktur des Bildes bestimmenden Flächen, hat der Maler nicht etwa die Farbe lasierend aufgetragen – dann könnte man von einer faktischen Transparenz sprechen – sondern die Ölfarbe vorher entsprechend gemischt und deckend gemalt. Insgesamt erreicht er, trotz starker, belebender Kontraste von Rot- und Blautönen, eine Harmonie der Farben, die ihrerseits die Dynamik der geometrischen Struktur akzentuieren und ausgleichen. Der Künstler hat es weitgehend vermieden, die Pinselspur zu zeigen. Die einzelnen Formen heben sich durch Farben und Schattierungen, die die Außen- und Binnenkonturen der Bildgegenstände kennzeichnen, voneinander ab. Häufig arbeitete Gris mit dem Verwerfungsprinzip, d.h., dass er bei gleicher Tonigkeit im Wechsel Hell gegen Dunkel setzt. Die Wirkung ist damit eher flächig als räumlich und entspricht so nicht dem wirklichen Seheindruck. Damit wird schon in der Feinstruktur des Bildes klar, dass der Maler Abstraktionen von der sichtbaren Wirklichkeit vornimmt, um, wie die Interpretation nun zeigen wird, ein „objet peinture“, einen autonomen Malereigegenstand anzustreben.



Ein Aspekt des Werkes, den ich in der bisherigen Analyse nur angedeutet habe, soll nun als Ausgangspunkt für die Interpretation dienen. Gemeint ist die Rolle der Schrift und die Funktion des Titels. Letzterer ist zumindest für denjenigen Betrachter eine große Hilfe, der Gris' Bilder – und die seiner Malerkollegen des Kubismus – noch nicht kennt. Dadurch, dass der Betrachter durch den Titel die Gattung des Bildes erfährt, wird er aufgefordert, seine hierdurch hervorgerufenen Assoziationen mit den Bild zu vergleichen. Er wird dann feststellen, dass es durchaus im Bild Hinweise gibt, die den Titel rechtfertigen. Hierin ist also ein Schlüssel zum Verständnis des Werkes zu sehen. Dieser Schlüssel ist, und das ist das Eigentümliche vieler kubistischer Werke, nicht bildlicher Art, sondern begrifflicher Art. So sollen die Buchstaben im Bild, die bestimmte Wörter bilden, Verbindungen zwischen Begriff, Abbild, Vorstellung und Wirklichkeit herstellen. Die Stelle im Bild, die den Schriftzug „Journal“ trägt, wird ja nur deshalb als Abbildung einer Zeitung verstanden, weil diese französische Vokabel hier eine bezeichnende Funktion erhält. Einen analogen Hinweischarakter liefert das Wort „Medoc“.

Nun gibt es nicht nur Hinweise begrifflicher Art. Wichtiger für das weitere Verstehen des Bildes ist die Darstellungsweise der einzelnen Gegenstände, deren Zusammenspiel hier weniger auf der Tischfläche stattfindet, sondern eher auf der Bildfläche. Denn Gris stellt sie nicht in einen einheitlichen perspektivischen Illusionsraum vor, sondern er präsentiert sie in Ausschnitten, teils nur fragmentarisch, und so abstrahiert, dass der Betrachter erst aus dem Zusammenwirken der Formen und Farben erkennen kann, dass beispielsweise ein Glas dargestellt ist: Das Weinglas auf der Zeitung ist, der Komposition folgend, anscheinend perspektivisch verzerrt, schräg dargestellt. Seine Öffnung ist nicht kreisförmig oder – wie die gewohnte Ansicht von schräg oben sein müsste – elliptisch, sondern als schräg liegendes Oval zu erkennen. Mit diesen Formeigenschaften entspricht es weniger dem bekannten Seheindruck, sondern es ordnet sich vielmehr der Bildstruktur unter. Dabei verliert es jedoch nicht seine wesentlichen Eigenschaften, die es als Weinglas kennzeichnen, so z.B. seine Materialeigenschaft: Gris zeigt deutlich die Durchsichtigkeit des Glases oben rechts und in der Mitte, wo man seinen Boden, den Fußansatz, erkennen kann. Der Fuß selbst zeigt lineare Bogenformen, die typische Lichtreflexionen beschreiben und damit einerseits das „Rundsein“ und andererseits wiederum den Materialcharakter des Trinkgefäßes demonstrieren.

 

Zusammenfassend, wenngleich auch etwas verkürzend, kann man sagen, dass es Gris im wesentlichen um zwei Dinge geht. Erstens ermöglicht ihn der Verzicht auf eine einheitliche Perspektive, auf Abbildung eines homogenen Raums, eine Konzentration auf die Realitätsebene des Bildes selbst. Seine Gesetze, die Struktur seines Aufbaus und die Möglichkeiten der kubistischen Bildsprache werden zum Thema. Dabei ist der Gegenstand, das Motiv des Stilllebens, lediglich bildnerischer Vorwand, der den Bezug zur europäischen Malereitradition herstellt. Zweitens erstrebt der Maler eine Bildharmonie, die sowohl statische wie dynamische Elemente in eine Gleichgewichtsbeziehung bringt. Losgelöst von der optischen Wirklichkeitserfahrung des Betrachters entsteht so das „objet peinture“, der „Malereigegenstand“, der gleichermaßen in der Malereitradition des Tafelbildes und der realen Umgebung des Malers wurzelt. Die dargestellten Gegenstände auf kubistischen Bildern sind zumeist ganz persönliche, aber alltägliche Dinge, mit denen sich der Künstler umgibt. So wie der Untertitel des Bildes – „Place Ravignan“ – erkennen lässt, dass das Bild einen bestimmten Ort wiedergibt, so sind die einzelnen Bildgegenstände in gewisser Weise authentische Zeugnisse der Umgebung des Künstlers. Diese Intimität des Dargestellten und dessen gleichzeitige Belanglosigkeit – es handelt sich ja nicht um sogenannte „große Themen“ – unterstützen die Vermutung, dass es dem Künstler tatsächlich in erster Linie um die Art der Malerei selbst ging, die mit dem Illusionsbild bricht und die neu gefundene Bildsprache zum Gegenstand macht.


(aus „Texte für den Kunstunterricht", 1984)

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