Eröffnungsrede von Werner Hielscher zu "Türme im Turm"

Türme im Turm, so hat Klaus Huneke seine Ausstellung in unserer Turmgalerie überschrieben. Er stellt drei Serien von Türmen vor, eine Fotostrecke, aufgenommen am 11. April 2001, die kleinen Turmbilder aus dem Jahr 2002 und die aktuellen großformatigeren Turmbilder von 2019.

Der Turm ist ein von Menschen vertikal errichtetes Bauwerk, wobei der Turm sich über seine Höhe definiert. Türme sind weithin sichtbare Landmarken, die die sie umgebende Bebauung um ein Vielfaches überragen. Historisch gesehen war der Turmbau für die Menschen der Wunsch über den Dingen zu stehen und sich von anderen abzusetzen, also ein Zeichen zu setzen für die Außergewöhnlichkeit der eigenen Existenz. Der in der Bibel beschriebene Turmbau zu Babel mag ein Beispiel für die Überheblichkeit der Menschen sein und die sich daraus ergebenden Folgen. In der Höhe des Turmes wird die besondere Bedeutung der Erbauer verortet, wie zum Beispiel bei den Geschlechtertürmen in Italien. Auch die mittelalterliche Konkurrenz der Städte, wer hat die höchste Kathedrale, mag dies belegen. Die 240 Bismarcktürme, von denen noch 173 vorhanden sind, belegen den Wunsch weithin sichtbare Zeichen der eigenen, in diesem Falle preußischen, Bedeutung zu materialisieren. Die Reihe der Beispiele ließe sich noch lange weiterführen. Der Turm als in die Senkrechte gerichtetes Bauwerk zeigt formal eine dynamische Ausdruckqualität und zwingt dazu den Kopf in den Nacken zu legen und über die jeweilige Größe zu staunen.

Die ausgestellte Fotostrecke hat Klaus Huneke genau fünf Monate vor der Zerstörung der Zwillingstürme an einem diesigen und windigen Tag auf der Dachterrasse des World Trade Centers fotografiert. Die Bildmotive in ihrer blaugrauen Anmutung wirken wie eine Vorahnung.

„Die Fotografie berichtet von der Vergangenheit und der Existenz der Dinge. Ihre mediale Funktion legt sich wie ein Schleier über die Welt und scheint sie trotzdem sichtbar zu machen. Die Malerei dagegen macht sich selbst sichtbar und lässt so Welt entstehen.“, so beschreibt Klaus Huneke seine Auffassung von Fotografie im Gegensatz zur Malerei und in unserem Fall zu den vorgestellten Turmzeichnungen. Er präzisiert seine Vorstellung der Zeichnung indem er weiter formuliert: „Nichts ist direkter als die Zeichnung! Der kürzeste Weg vom Gehirn zum Papier geht über den Arm und die Hand zum Zeicheninstrument. Die Spur, die es auf der Fläche hinterlässt, nimmt das Auge auf und speist damit den Geist, der Kreislauf beginnt von vorn, ein ständiges, konzentriertes, unmittelbares Tun. Auch die umgekehrte Richtung ist wichtig: Die Hand fühlt den Widerstand, der Geist will ihn überwinden, neue Wege suchen, das Auge sieht Lösungen, die Zeichnung kommt voran.“

Seine Turmzeichnungen wurden angeregt durch die visionären Architekturzeichnungen von Ludwig Mies van der Rohe und den Ideenskizzen Erich Mendelsohns zum Einsteinturm. Die Ideenskizze kennzeichnet allgemein in der Gestaltung den konkreten, aber vorläufigen Charakter eines Gestaltungsansatzes, den ersten sichtbaren Schritt, so zu sagen das Nukleon, eines längeren Gestaltungsprozesses. Vor diesem Hintergrund geht es Klaus Huneke vornehmlich nicht um Architektur, sondern er bezieht sich auf den Archetypus des senkrechten Bauens, um individuelle autonome Zeichnungen entstehen zu lassen.

Linien auf einem Blatt entstehen durch die Spur eines Zeichengerätes bei der Bewegung des Armes, der Hand, entweder konstruktiv, also geradlinig oder aber wie bei den vorgestellten Blättern dynamisch unter emotionaler Blickrichtung. Mit dem Pinsel werden klare Akzente gesetzt, eine Korrektur der Bewegungsspur ist nicht möglich. Die Pinselzeichnung, von den japanischen Zen-Mönchen zur äußersten Perfektion gebracht, verlangt eine meditative Sammlung, um dann, nahezu eruptiv, eine Spur auf dem Blatt zu hinterlassen, die eine seelische Gestimmtheit trifft.
Demgegenüber sind die Spuren eines Stiftes eher suchend, tastend, kreisend und verdichten sich zu einem Geflecht von Linien, zu einer Formkonstellation. Durch die Überlagerung verschiedener Emotions-Spuren entstehen tiefschichtige und tiefgründige Formkonstellationen. Sie sind nicht auf den ersten Blick eingängig. Durch das Bewegungsgeflecht der übereinander gelagerten Zeichenspuren, seien es Pinsel-, Kreide- oder Bleistiftspuren, wird eine Vieldeutigkeit angelegt, wird auf die Vielschichtigkeit der eigenen Existenz verwiesen, Betroffenheit stellt sich bei der Betrachtung der Zeichnungen von Klaus Huneke ein.

Die kleineren Tuschearbeiten zeugen von einer konzentrierten, expressiven Haltung, von einer Schnelligkeit der Bewegung der gesetzten, aufgehellten oder volltonigen Tuschelinien. Die als erstes gesetzten, hellen Tuschelinien treten zurück und suggerieren im Verbund mit den volltonigen eine Tiefenwirkung, eine Art Räumlichkeit.

Die Liniengefüge der großen Arbeiten haben aufgrund der verschiedenartigen Zeichenmaterialien eine pulsierende Wirkung, sie sind das Resultat aus Bewegung und Zeit.

Durch die Zurücknahme der Abbildhaftigkeit gewinnt die Linie an Autonomie. Ihr wird eine größere inhaltliche Bedeutung zugewiesen als dem Gegenstand selber. In den großen Arbeiten wirken neben den unterschiedlichen Materialspuren auch differenzierte, verhaltene Grautöne. Jede Materialspur hat ihre eigene Charakteristik und autonome Aussage. Berichten die zarten Bleistiftspuren vom vorsichtigen Suchen, so setzen die Kreidelinien entschiedene Akzente. Die Tuschelinie fasst zusammen und ist endgültig, sie strafft das Liniengespinst und verstärkt den Formcharakter.

Jede dieser Spuren auf dem Blatt wurde in einer bestimmten Zeit hinterlassen. Die Vielheit der Spuren erzählt von der verronnen Lebenszeit, die Klaus Huneke dieser Tätigkeit widmete. Sie erzählen von seiner Konzentration. Jede Linie belegt seine psychische Gestimmtheit, denn eine freie Linie, die sich nicht einem Abbild unterordnen muss, gibt unverstellt den Blick frei auf den Zustand der Psyche, den inneren Linien. Die psychische Transparenz, die durch den Zeichenprozess uns vor Augen gestellt wird, versucht Klaus Huneke durch seine serielle Arbeitsweise vorzustellen. In der Reduzierung auf die Turm-Form und in der spezifischen Darstellung knüpft Klaus Huneke an die Tradition des Zen.

Dies möchte ich mit der 3. Anekdote aus dem Koan belegen:
„Ein Mönch fragte: Wo ist der Ruheplatz für den Geist? – Der Geist, antwortete der Meister, verweilt, wo kein Ruheplatz ist. – Der Mönch: Was bedeutet, wo kein Ruheplatz ist? – Der Meister: Wenn der Geist nicht bei einem einzelnen Gegenstand verweilt, so sagen wir, er verweilt, wo es keinen Ruheplatz gibt. - Der Mönch: Was bedeutet, nicht bei einem Gegenstand verweilen? – Der Meister: Es bedeutet, nicht verweilen bei der Zweiheit von Gut und Böse, Sein und Nichtsein, Geist und Stoff; es bedeutet, nicht verweilen bei Leerheit und Nichtleerheit noch bei Ruhe und Nichtruhe. Wo es keinen Ruheplatz gibt, da ist in Wahrheit der Ruheplatz für den Geist.“

Dieser Ruhe des Geistes in der Bewegung entsprechen die Spuren auf Klaus Hunekes Blättern. Sie zeugen von einer inneren Bewegung aus der Kraft der Innerlichkeit, der Kontemplation. So wird die magische Qualität, das Ikonenhafte der Blätter einleuchtend. Klaus Huneke sucht nicht, er findet, wie Picasso sagte, er findet immer neue, eindringliche Turm-Formen.

 

(Werner Hielscher im Juni 2019)